Er hatte Silvio Tadoni sofort erkannt. Der tote Tenor erinnerte in nichts mehr an den strahlenden Herzog. Dass er noch das entsprechende Kostüm trug, änderte daran nichts. Sein Gesicht war blass, und Tadonis Hals zeigte den für Erhängte typischen Befund einer Strangfurche. Sein Körper war schon kalt, Simarek musste die Leiche nicht berühren, um das festzustellen. Er spürte es und sah nicht zum ersten Mal einen Erhängten. Aus Nase, Mund und Ohren war Blut ausgetreten. Simarek wusste, dass das mit dem erhöhten Druck im Kopf zusammenhing, der beim Erhängen entsteht. Und auch, dass die Zunge zwischen den Zähnen eingeklemmt war, registrierte der Kommissar als typischen Befund. Das sah nach Selbstmord aus. Dennoch hatte  Robert Simarek sofort beim Betreten der Probebühne das Gefühl beschlichen, er wohne einer Inszenierung bei. Er wusste zwar noch nicht, was nicht stimmte, aber dass etwas nicht stimmte, darauf hätte er bereits jetzt das angeschmuddelte Sweatshirt verwettet, das er trug. Ein Selbstmord passte einfach nicht zu dem strahlenden Tenor, den Simarek noch vor zwei Tagen auf der Bühne bewundert und nach dem Schlussakkord auch bejubelt hatte.


Dieser Mann hatte den Erfolg doch genossen, die Huldigung durch das Publikum und vermutlich auch die Lobeshymnen in der Presse. Warum lag dieser Mann nun tot hier auf dem Boden, sichtlich entstellt und für immer stumm? Das ergab doch keinen Sinn. Aber Simarek wusste auch, dass vieles in der oberflächlichen Wahrnehmung eines Menschen nur Fassade ist. Was wusste er wirklich über Silvio Tadoni? Nichts. Nur, dass er eine bemerkenswerte Stimme besaß und sein Herzog von Mantua ihm ans Herz gegriffen hatte. Aber über den Menschen hinter der Stimme und der Rolle wusste er nichts. Er musste ihn kennenlernen, um seinen Zweifeln auf den Grund gehen zu können. Wo sollte er anfangen?